Theatertext: Nach Bayreuth
I. Akt Das Rheingold
- I.1 Waltraud, Joseph und Evelyn
- I.2 Evelyn und Joseph
- I.3 Evelyn, Joseph und Waltraud
- I.4 Joseph und Evelyn
- I.5 Joseph, Evelyn, Robert und Sylvia
- I.6 Sylvia und Evelyn
- I.7 Evelyn, Sylvia und Joseph
- I.8 Robert, Evelyn und Joseph
- I.9 Robert und Joseph
- I.1 Evelyn, Joseph, Robert und Sylvia
II. Akt Die Walküre
- II.1 Evelyn und Robert
- II.2 Evelyn, Robert und Joseph
- II.3 Sylvia, Joseph, Evelyn und Robert.
- II.4 Sylvia und Joseph
- II.5 Joseph, Sylvia, Robert und Evelyn
- II.6 Sylvia, Joseph und Robert
- II.7 Joseph und Sylvia
Klaus Trapp
Nach Bayreuth
Ein deutsches Lustspiel in 4 Akten
© 2003-2011 Klaus Trapp
Personen:
Waltraud Stein, eine rüstige Mittsiebzigerin, ehemalige Apothekerin, wohnt in einem Seniorenheim am Ort,
Evelyn Stein, ihre Schwiegertochter, Ende Vierzig, Zahnärztin,
Joseph Stein, Waltrauds Sohn und Ehemann von Evelyn, knapp Fünfzig, Notar,
Sylvia Wagner, etwa Vierzig, Anästhesistin aus Wismar,
Robert Wagner, verheiratet mit Sylvia, etwas jünger als seine Frau, Lehrer für Englisch und Musik an einem Gymnasium in Wismar.
Ort: Das Wohnzimmer der Steins in einer deutschen Kleinstadt am Ufer des Rheins.
Zeit: An zwei Tagen im August zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der 1. Akt spielt am frühen Abend, der 2. am späten Abend desselben Tages, der 3. in der folgenden Nacht und der 4. am nächsten Morgen.
Bühnenbild: Ein deutsches Wohnzimmer. Auf der linken Seite befinden sich ein großes Fenster und eine Glastüre, die zur Veranda führt. Dahinter liegen Weinberge. An der Rückseite führt links eine Türe in die Küche. In der Mitte der Rückseite steht ein Wohnzimmerregal, darin u. a. eine Stereoanlage mit Plattenspieler und CD-Player, ein Video-Recorder, ein Telefon mit Anrufbeantworter, einige Video-Kassetten, viele Bücher und sehr viele Schallplatten und CDs. Den Fernsehapparat muss man sich auf der Gegenseite vorstellen. In der Nähe der Stereoanlage befindet sich eine kleine Lampe zur Beleuchtung des Plattenspielers. Das Regal enthält ein Schränkchen, darin diverse Gläser und Flaschen. Rechts im Regal steht an einem gut sichtbaren Platz eine Gipsbüste von Richard Wagner. An der hinteren rechten Seite führt eine Türe in den Eingangsraum. Im vorderen Teil der rechten Seite steht ein Aquarium. In der Mitte des Wohnzimmers parallel zum Regal befindet sich eine Sitzgruppe: ein Sofa, auf dem zwei bis drei Personen Platz haben, und rechts und links davon ein Sessel, wovon der rechte etwas größer sein darf. Vor dem Sofa ist ein flacher Couchtisch mit einem Aschenbecher. Auf dem Sofa und den Sesseln liegen Kissen.
Kleidung: Gepflegt, leger.
I. Akt Das Rheingold
Joseph liegt auf dem Sofa, hat Kopfhörer auf, die mit der Stereoanlage verbunden sind, und lauscht der Musik. In den Händen hält er, zugeschlagen, ein Buch. Die Türe zur Küche ist geöffnet.
I.1 Waltraud, Joseph und Evelyn
Waltraud kommt trällernd von der Veranda. Jetzt geh ich ins Maxim ... Joseph! Ich verschwinde.Er reagiert nicht.
Evelyn ruft aus der Küche: Er hört dich nicht.
Waltraud zieht das Kopfhörerkabel aus der Stereoanlage. Sie geht dann weiter und nimmt von der Wagner-Büste ihren Hut. Es sieht nach Regen aus.
Joseph sichtlich irritiert, aber nicht sauer: Du willst doch nicht schon gehen?Er betätigt eine Taste an der Stereoanlage und legt die Kopfhörer und das Buch ins Regal.
Waltraud Doch, lieber Joseph. Meine Skat-Runde im Heim wartet nicht gern. Außerdem kommt gleich euer Besuch.
Joseph Nein, wir erwarten unsere Freunde nicht vor sieben. Sie kommen ja von weit her und kennen sich hier in der Gegend nicht aus. Ich denke, es wird eher später.
Waltraud Meinst du damit, dass sie keine Straßenkarten und Verkehrsschilder lesen können, nur weil sie ihren Führerschein noch in der DDR gemacht haben.
Joseph Natürlich nicht. Sylvia hat übrigens ihren Führerschein erst seit letztem Jahr. Das hat sie mir geschrieben. Sie waren auch schon oft am Rhein, in Köln, in Basel, sogar schon in Oberhausen. In unserem Kaff natürlich noch nicht.
Waltraud Wovon die Leute im Urlaub erzählen. Von Oberhausen. Da war ja noch nicht einmal ich. Oder hat Sylvia das auch in ihrem Brief erwähnt?
Joseph Nicht im Urlaub, nein. Wir haben uns erst beim Rückflug kennen gelernt. Sie ist übrigens auch Humanmedizinerin. Narkose.
Waltraud Erst auf dem Rückflug? Ich dachte, ihr wart im gleichen Hotel. Das heißt, ihr kennt euch kaum. Das muss eine eindrucksvolle Begegnung gewesen sein. Ich mache nicht so schnell mit jemandem zusammen Urlaub.
Joseph Eindrucksvoll, ja, das kann man sagen, durchaus.
Evelyn kommt inzwischen aus der Küche: Joseph war sehr beeindruckt.
Waltraud mehr zu sich selbst: Hat sie ihn betäubt?
Joseph zu Evelyn: Was soll das denn?Zu Waltraud: Es war eine Begegnung mit Menschen, die einem sofort sympathisch waren. Auf den ersten Blick. Das hat man nicht oft, heutzutage, nicht wahr, Evelyn.
Evelyn Wagnerianer!
Waltraud Ach so, dann ist es ja etwas völlig anderes.Langsam, nachdenklich: So, so. Sagt mal, gehe ich recht in der Annahme, dass ihr bei eurer Reise an diesen Ort fahrt, wo man nur die Opern von diesem grässlichensehr leise Wagnerwieder normal spielt, nach ...
Evelyn Bayreuth. Genau. Wir wollten es dir nicht so direkt sagen, weil dein Musikgeschmack in diesem Punkt ziemlich heikel ist.
Waltraud Was heißt da heikel. Ihr besucht hoffentlich nur die Stadt? Oder geht ihr etwa zu diesem hoch subventionierten Spektakel und lasst euch die Ohren voll blasen.
Evelyn Joseph versucht schon seit zig Jahren, Karten zu bekommen. Und diesmal hatte er Glück.
Joseph Seit 9, um genau zu sein, wie bei unseren Freunden. Und zufälligerweise haben wir Karten für die gleichen Vorstellungen.
Waltraud Das erfährt man alles auf einem Rückflug. Ich sollte auch mal wieder fliegen. Möglichst nur zurück. Eine ganze Woche seid ihr da? Was tut ihr euch an!
Joseph Den kompletten Ring des Nibelungen: Rheingold, Walküre, Siegfried und die Götterdämmerung. Vier wunderbare Abende.
Waltraud setzt sich in einen der Sessel. Ich hätte es mir denken können. „Wir verbringen mit unseren Freunden aus Ostdeutschland eine Woche in Bayern.“ Joseph, was bekommt man für hinterlistige Täuschung in einem besonders schweren Fall? Ich halte eine Woche Entzug der häuslichen Pflege für angemessen.Steht wieder auf. Keine Sorge, ich werde mit Freuden eure Blumen gießen und die Fische füttern.Sie geht zum Aquarium. Na, Wogi, Welli, Flossi ... nächste Woche gibt es den ganzen Tag über Verdi, Lortzing, Strauß, Lehar. Undine wird euch bestimmt gefallen ... Kuck mal, wie sie sich schon freuen.
Joseph Mutter, die Fische heißen Woglinde, Wellgunde und Floßhilde, wie die Rheintöchter aus dem Rheingold. Wenn du wenigstens Wogli sagen würdest. Sonst müsste ja der Fisch, eh, die Rheintochter Woginde heißen.
Evelyn zu Joseph: Die Wagners mussten übrigens nur 6 Jahre warten.
Waltraud Oh oh, eure Bekannten heißen auch noch so. Hm, selbst bei diesem Namen ist es unmöglich nach nur 6 Jahren Wartezeit Karten zu bekommen.
Joseph Wagner ist recht verbreitet, auf jeden Fall unter den 10 häufigsten Familiennamen in Deutschland.
Waltraud Unser Hausmeister im Seniorenheim heißt auch so.
Joseph Etwa mit Vornamen Richard? Habe ich erzählt, wer vorige Woche in meine Kanzlei kam? Carl May, allerdings mit C geschrieben. Es ist unglaublich, wie Eltern mit berühmten Namen ihre Kinder taufen. Was habe ich nicht alles in meiner Mandantenkartei: Max Weber, Thomas und Klaus Mann, Zwillingsbrüder.
Waltraud Und wie heißt Sylvias Mann? Sigurd fände ich schön.
Joseph Rainer.
Evelyn Er heißt Robert.
Joseph Ja, Robert. Ich wusste, es war etwas mit R.
Waltraud Robert, auch nicht schlecht. Ich kann dich herzlich beruhigen, mein Hausmeister heißt Schorsch. Ein erstaunlich hilfsbereiter Mensch. Und sehr musikalisch. Er spielt übrigens Trompete im Spielmannszug vom Karnevalsverein.
Evelyn Ist das der mit der Zahnlücke?
Waltraud Schorsch ist ein Wunder an Geschicklichkeit. Seine Zähne, das ist ein anderes Kapitel. Ich werde ihm bei Gelegenheit die Adresse deiner Praxis geben. Wo habt ihr eure neuen Freunde untergebracht?
Joseph Bei uns natürlich. Im Gästezimmer.
Evelyn Bei uns? Wo bitte? Du hast mir gesagt, du wolltest sie in der Traube unterbringen.
Joseph Es war alles belegt. Eine große Familienfeier, ich glaube eine Hochzeit.
Waltraud Oh oh, klärt die Zimmerfrage bitte unter euch.Sich verabschiedend: Lebt wohl ihr beiden. Grüßt mir unbekannterweise diese Wagners und natürlich auch Walhalla und Wotan und die, wie heißen sie noch, die Wunschmaiden.
Joseph Nach Walhall kommt man nur, wenn man tot ist.
Waltraud Ich vergaß. Dann eben nur Wotan und seine reizende Familie.Nach rechts ab.
Joseph ihr nachrufend: Außerdem heißt es Wunschmädchen, nicht Maiden. Sie sind nicht das, was du denkst.Mehr zu sich selbst: Sie sind so etwas wie Wotans Haus- oder Dienstmädchen. Kann man ja schlecht singen: Grüß mir die Hausmädchen.
I.2 Evelyn und Joseph
Evelyn Für eine erklärte Wagner-Hasserin kennt sie sich erstaunlich gut aus. Natürlich nicht so gut wie du.
Joseph Wieso war Mutter eigentlich noch nie in Oberhausen.
Evelyn Was soll sie denn da? Sag mal, wie kommst du eigentlich dazu, diese Leute bei uns einzuquartieren, ohne mir ein Wort davon zu sagen?
Joseph Hast du meinen Zettel nicht gelesen? Ich habe es dir aufgeschrieben. Heute Mittag.
Evelyn Du mit deinen Zetteln. Nein, ich hab‘ ihn nicht gesehen. Wo hast du ihn bloß hingelegt?
Joseph Na dort,zeigt auf eine Stelle im Regal wie immer.
Evelyn Da ist kein Zettel. Ich vermute, es stand drauf, dass ich mich schon mal um das Dachzimmer kümmern soll.
Joseph Nein, das stand ganz gewiss nicht darauf. Das mache selbstverständlich ich. Meinst du, ich weiß nicht mehr, wie man ein Bett bezieht? Wieso ist eigentlich der Zettel verschwunden?
Evelyn Joseph, es war deine Idee, die Wagners einzuladen, und du hast mir versprochen, dich um alles, aber auch alles zu kümmern. Du wolltest ein Hotel für sie buchen und den Tisch für heute Abend reservieren. Hast du das auch vergessen?
Joseph Liebe Evelyn, ich habe das Hotelzimmer nicht vergessen. Es war nur nichts mehr frei. Das ist ein Unterschied.
Evelyn Nicht im Ergebnis. Und was ist mit dem Schwan oder dem Engel?
Joseph Der Engel ist ein grässlicher Laden geworden. Die neue Besitzerin war letzte Woche in meiner Kanzlei. Eine ordinäre Person. Sie sieht aus wie eine Puffmutter. Nein, nicht der Engel.
Evelyn Wie eine Wagnersängerin wäre dir lieberleise oder wie Sylvia. Und der Schwan? Würde doch sehr gut passen.
Joseph Du wirst überrascht sein, wie Wagnersängerinnen heute aussehen. Wenn du mich in den letzten Jahren begleitet hättest, zu den Aufführungen in Stuttgart oder in Köln, dann hättest du nicht diese obskuren Vorstellungen. An den Schwan habe ich auch gedacht. Ich hatte schon die Telefonnummer notiert. Dann kam mir die Idee, die Wagners hier unterzubringen. Letztes Jahr, als deine Kusine und ihr Mann hier waren, hat das doch sehr gut geklappt. Außerdem ist der Schwan zu teuer.
Evelyn Es waren meine Nichte und ihr Freund. Die beiden sind Anfang zwanzig und die Wagners sind um die vierzig. Das Bett ist viel zu schmal.
Joseph Dann stellen wir eben diesen ausklappbaren Stuhl aus deinem Zimmer dort auf, du weißt schon.
Evelyn Du, Joseph, du stellst ihn auf, klappst ihn aus, holst frische Bettwäsche, beziehst das Bett und das Klappsofa, und bei dieser Gelegenheit kannst du gleich den ganzen Trödel aus dem Zimmer wegräumen.
Joseph Du weißt, dein Wunsch, Evelyn, ...Er begibt sich Richtung Eingangsraum. Ein Mann steht zu seinem Wort.
Evelyn Was ist mit dem Tisch für heute Abend bei Luigi?
Joseph an der Wohnzimmertür: Ja, Luigi, wir wollen zu Luigi. Da muss man nicht reservieren.
Es klingelt.
Evelyn schaut auf die Uhr. Nein, nicht schon jetzt.
Joseph geht hinaus und kommt kurz darauf zurück.
I.3 Evelyn, Joseph und Waltraud
Waltraud hinter Joseph hereinkommend: Ich hab‘ noch was vergessen. Die Video-Kassette.
Joseph geht zum Regal. Dabei habe ich sie heute Mittag extra für dich zurückgespult.
Waltraud zu Evelyn: Es wird bald regnen.Zu Joseph: Danke. Das Floß der Medusa.Schwärmerisch: Mit Lino Ventura.
Evelyn Und Richard Burton.
Joseph Der Schrecken, Mutter, der Schrecken. Das Floß der Medusa ist ein Bild und hängt im Louvre.
Waltraud Hauptsache, auf der Kassette ist der richtige Film. Ich werde ihn nach unserer Skat-Runde zusammen mit Kruse anschauen. Kruse mag auch so gerne Filme mit Lino Ventura. Falls ihr übrigens noch Probleme mit der Unterbringung habt, bei mir im Heim ...
Evelyn Danke Waltraud, wir haben das soeben geklärt. Wir könnten dir noch mehr Lino Ventura Filme anbieten.
Waltraud Darauf komme ich gerne ein anderes Mal zurück. Was ich euch noch fragen wollte: Eure Bekannten wollen doch mit Euch nach ...
Evelyn Bayreuth.
Waltraud Und sie fahren jetzt erst einmal hierher, an den Rhein. Von Weimar ist das doch ein riesiger Umweg.
Evelyn Sie sind aus Wismar, das liegt in Mecklenburg-Vorpommern.
Waltraud Schade. Ich hatte vorhin Weimar verstanden. Ich weiß übrigens, dass Wismar in Mecklenburg liegt. Das macht den Umweg nur größer.
Joseph Sie kommen hier her, weil wir sie eingeladen haben, Mutter. Wir haben sie einladen, weil es Menschen sind, die etwas von Musik verstehen.
Evelyn Robert unterrichtet Musik an einem Gymnasium.
Joseph Und vor allem, sie lieben die Musik von Richard Wagner, wie wir beide. Kennst du einen Menschen in diesem Kaff, mit dem man sich angeregt über Wagner unterhalten kann?Waltraud nickt - für Joseph nicht sichtbar. Weißt du, was diese Banausen hier unter Musik verstehen: Geplärre aus dem Radio, Hintergrundgedudel im Supermarkt und Karnevalsschlager. Diese Kleingeister und Krämerseelen ... meinst du, einer davon beschäftigt sich auch nur eine Sekunde mit Kunst. Ja, für den Fußballverein oder das Winzerfest, da haben sie Zeit - und Geld. Da lassen sie schon mal was springen. So ist das in der Provinz. Du hast dich selbst oft genug beklagt über die Kulturlosigkeit in diesem Nest. Wenn man dann einmal im Leben, rein zufällig, Gleichgesinnten begegnet, dann ist es ganz normal, dass man diese Begegnung vertiefen will. Die Wagners empfinden das genauso. Ist es nicht viel schöner, das, was man mag, mit anderen gemeinsam zu erleben und zu teilen? Das ist nichts anderes, als wenn du zusammen mit deinen Skat-Freunden Lino Ventura Filme anschaust. Deswegen kommen die Wagners hier her und nehmen gerne einen Umweg in Kauf.
Waltraud sich verabschiedend: Joseph, ich hätte dich doch aufs Konservatorium schicken sollen. Danke für die Kassette. Du weißt, was ich von diesem kleinbürgerlichen Antisemiten halte, trotzdem, viel Vergnügen ihr beiden. Hojotohoo, Grane, mein Auto, ich komme.Nach rechts ab.
I.4 Joseph und Evelyn
Joseph setzt sich links auf das Sofa und steckt sich eine Zigarette an. Tief durchatmen. Sie ist weg.
Evelyn Du denkst an das Dachzimmer. Ich muss mich um den Backofen kümmern. Kuchen für die Reise.
Joseph Ich denke seit zehn Minuten an nichts anderes.
Evelyn An Kuchen?
Joseph Nein. Sind oben noch die ganzen Kartons mit den Fotos?
Evelyn Nicht nur das. 15 bis 20 Jahrgänge Weihnachtskarten, Waltrauds gesammelte Steuererklärungen und jede Menge Plunder, den sie nicht ins Heim mitnehmen wollte.
Joseph Wir wollten das Dachzimmer schon lange für solche Fälle herrichten.
Evelyn Du hast ja nie Zeit.Es klingelt.
Joseph Nein, nicht schon wieder. Was hat sie jetzt vergessen.
Evelyn Ich mache auf.
I.5 Joseph, Evelyn, Robert und Sylvia
Evelyn geht nach rechts zur Wohnzimmertüre. Beim Öffnen kommen ihr die Wagners entgegen, zuerst Robert, dann Sylvia. Robert hat einen Blumentopf mit einem Rosenstock in der Hand. Sie stoßen beinahe zusammen. Evelyn geht zur Mitte, die Wagners folgen ihr.
Robert Oh, Entschuldigung. Ihre Mutter ist uns an der Türe begegnet und hat uns hereingebeten.
Sylvia Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen. Wir sind zu früh.
Evelyn Willkommen bei uns.Gibt Sylvia die Hand. Schön, dass Sie da sind.
Joseph ist inzwischen aufgestanden und hat die Zigarette ausgedrückt. Das macht gar nichts. Haben Sie uns gut gefunden.
Robert Kein Problem. Sylvia hat in ihrem neuen Auto ein automatisches Leitsystem.Er gibt ihr endlich den Blumentopf. Für Sie.
Evelyn riecht daran Wunderbar, ich liebe Rosen.
Robert Aus unserem Garten.
Joseph Willkommen am Rheingibt beiden die Hand Ich habe mir auch schon überlegt, so etwas ins Auto einbauen zu lassen. Bitte nehmen Sie doch Platz.Robert setzt sich in den rechten Sessel, Sylvia rechts auf das Sofa. Was darf ich Ihnen zur Begrüßung anbieten? Einen Sekt?Sylvia nickt.
Evelyn Ich hol’ ihn schon. Muss sowieso kurz in die Küche.Sie geht mit dem Blumentopf ab.
Joseph Man hört seltsame Geschichten über diese Verkehrsdinger. Es soll schon mal einer deswegen im Rhein gelandet sein.
Sylvia Bei uns hat es sehr gut geklappt. Einfach die Adresse eingeben, Schöne Aussicht 17, und dann immer der Stimme nach, bis direkt vor die Haustüre.
Robert Sylvia musste nur das Gaspedal bedienen und das macht sie gerne. War das Ihre Mutter?
Joseph Ja, meine. Sie wohnt in einem Seniorenheim, anderthalb Kilometer von hier. Es liegt oberhalb der Weinberge mit Blick auf den Rhein. Maximilianeum. Es war früher ein Kloster. Ich habe bei der Gründung die Verträge beurkundet.Er holt Gläser aus dem Regal.
Robert Kommt sie auch mit? Sie machte einen sehr musikalischen Eindruck.
Evelyn inzwischen wieder aus der Küche zurück mit einer Sektflasche, die sie Joseph gibt. Oh ja, Waltraud ist sehr musikalisch. Sie liebt leidenschaftlich Opern und Operetten, nur nicht Richard Wagner. Den kann sie nicht ausstehen. Nein, wenn eins sicher ist, dann, dass Waltraud nicht mitkommt.
Robert Ist eben nicht jedermanns Geschmack. Das kann ich verstehen.
Sylvia Oder jederfraus.
Joseph öffnet die Flasche. Aus hiesigem Anbaugebiet. Sie können unbesorgt davon trinken, denn heute muss keiner von uns mehr mit dem Auto fahren. Die restlichen Wege erledigen wir zu Fuß.Schenkt die Gläser voll.
Sylvia Und zum Hotel? Ich frage wegen der Koffer.
Joseph Keine Sorge, wir haben Sie hier bei uns untergebracht. Ich hoffe, Sie verübeln uns das nicht. Unser Gästezimmer ist vielleicht nicht so komfortabel wie die Zimmer in der Traube. Wir haben uns gedacht, dass es so viel günstiger ist. Dann können wir beisammen sein, solange wir wollen. Aber, jetzt wird es Zeit ...Er reicht die Gläser herum. Sie müssen ja verdursten. Verzeihen Sie, macht es Ihnen etwas aus, liebe Frau Wagner, lieber Herr Wagner, wenn ich Sie, ich meine, wenn wir uns beim Vornamen anreden?Sylvia und Robert stehen wieder auf.
Sylvia Ganz und gar nicht - lieber Joseph, liebe Evelyn.
Evelyn Lieber Robert, liebe Sylvia.
Robert Liebe Evelyn, Joseph.
Joseph Liebe Sylvia, Robert. Willkommen bei uns, auf einen schönen Abend und eine schöne Woche in ...
Evelyn Bayreuth.Sie stoßen mit den Gläsern an und trinken.
Joseph Nehmen Sie doch wieder Platz.
Sylvia Hm, lecker.Sie setzt sich wieder hin.
Evelyn zu Joseph: Denkst du daran, woran du vor 10 bis 20 Minuten gedacht hast.
Joseph zu Evelyn: Ich denke immer noch an nichts anderes.Laut: Den Winzer kennen wir sehr lange, beruflich, alle beide. Er produziert seit einigen Jahren diesen Sekt.
Robert Macht er nicht schlecht. Schön süffig. Angenehme Säure.Er setzt sich wieder hin.
Joseph Trinken Sie, es ist genug da. Wenn wir beim Trinken sind, wollen wir auch das Essen nicht vergessen. Wir werden Sie heute Abend zu Luigi entführen. Der beste Italiener weit und breit. Ich hoffe, Sie mögen die italienische Küche.
Sylvia Ja, sehr gerne.
Joseph Sein Vater, er hieß auch Luigi, er ist leider vor zwei Jahren gestorben, kam in den 60ern hier her. Ein Sizilianer. Aus dem gleichen Ort wie Pirandello. Er hatte damals das erste italienische Lokal im ganzen Kreis eröffnet.
Evelyn Eine Eisdiele.
Robert Dann essen wir sozusagen bei Ludwig dem Zweiten.
Joseph Sehr gut, Robert. Jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir auf. Luigi hat irgendetwas Bayerisches an sich, vielleicht sein Gang.Zu Evelyn: Findest du nicht?
Evelyn Das finde ich gar nicht. Wie geht denn bitte ein bayerischer Gang? Zumindest spricht er wie ein astreiner Rheinländer. Ich glaube, er kann gar kein italienisch mehr. Dafür kann er umso besser italienisch kochen.
Sylvia Agrigent. Jetzt fällt es mir wieder ein. Der Geburtsort von Luigi Pirandello. Weißt du noch Robert, da waren wir vor drei Jahren auf unserer Sizilien-Rundreise.
Robert Ja, in den Herbstferien. Da hast du den teuren Pullover gekauft. Bei 30 Grad Hitze.
Evelyn Oh, Sizilien. Davon müssen Sie uns noch erzählen. Ich versuche seit zig Jahren, Joseph nach Sizilien zu lotsen, aber er will ja nur nach Venedig. Jetzt entschuldigen Sie mich kurz. Ich muss rasch in die Küche. Sonst verbrennt mein Kuchen. Vor eine Reise backe ich immer einen Kuchen. Wenn Joseph unterwegs nichts zu naschen bekommt, wird er unausstehlich.Sie steht auf und geht ab in die Küche.
Joseph Evelyns Kuchen sind unverschämt gut. Darf ich noch etwas nachschenken?
Robert Wir können inzwischen die Koffer rein tragen.Er steht auf.
Sylvia Ich würde mich gerne etwas frisch machen.Sie steht auf.
Joseph Aber selbstverständlich.Zu Robert: Kommen Sie. Wir bringen das Gepäck rein, ich zeige Ihnen das Zimmer.Zu Sylvia: Hier vorne um die Ecke ist das Gästebad.Er will beide zur Wohnzimmertüre führen, Robert folgt ihm.
Sylvia bleibt stehen. Ich warte noch auf mein Schminktäschchen aus dem Koffer.
Joseph und Robert nach rechts ab.
I.6 Sylvia und Evelyn
Sylvia schaut sich im Zimmer um, betrachtet die Regalwand, zunächst die Bücher. Goethe, Nietzsche, Wagner, Wagner, Schopenhauer, Thomas Mann, Heinrich Mann, Pirandello, Henry Miller,dann bei den Platten und CDs Wagner, Beethoven, Tschaikowsky, Moustaki, Cohen, Bob Dylan.Sie sieht das Aquarium und geht darauf zu.
Evelyn kommt aus der Küche zurück. Darf ich bekannt machen mit Woglinde, Wellgunde und Floßhilde.
Sylvia Die Rheintöchter, wie putzig. Wenn welche dazu kommen, können Sie sie nach den Walküren benennen.
Evelyn Das geht schlecht. Waltraute könnten wir auf keinen Fall nehmen, wegen Josephs Mutter.
Sylvia Ich verstehe, das fände sie nicht nett.
Evelyn scherzhaft: Wir könnten sie Erste, Zweite und Dritte Norn nennen.
Sylvia Göttinnen des Schicksals in der Gestalt von Fischen.Singt leise: „Weißt du, wie das wird?“Beide lachen. Was ist das, was da oben auf dem Stein liegt? Ist das eine Münze?
Evelyn Sylvia, das müssten Sie doch wissen. Es ist tatsächlich eine Münze, es blinkt und glänzt und ... na? Denken Sie an die Namen der Fische.
Sylvia Ah! Nein! Ich glaub‘ es nicht. Das Rheingold! Bewacht von drei Goldfischen.
Evelyn Erraten. Es ist sogar eine echte Goldmünze. Da lässt sich Joseph nicht lumpen.Zitierend: „Rheingold, Rheingold, reines Gold“.
Sylvia Phantastisch. Jetzt sagen Sie bloß, Sie haben in Ihrem Keller ein paar Ambosse a la Nibelheim.
Evelyn Fast, keine Ambosse, aber einen Heimtrainer. Joseph meinte einmal, jeder Keller hat etwas von Nibelheim und besonders, wenn man dort schuften und schwitzen muss, wie die armen, geknechteten Nibelungen.Beide lachen.
Sylvia Darauf muss ich etwas trinken.
Evelyn Ich leiste Ihnen Gesellschaft.Sie gehen wieder zur Mitte und setzen sich auf das Sofa, Sylvia rechts, Evelyn links. Evelyn schenkt Sekt nach. Sie stoßen an. Sie sehen sehr erholt aus, Sylvia.
Sylvia Das macht die gute Mecklenburgische Luft und das Wasser. Wissen Sie, wir haben ein kleines Häuschen am See. Von Mai bis Oktober sind wir jedes Wochenende draußen. Robert hat es von seinem Onkel geerbt. Einschließlich Segelboot. Eine furchtbar komplizierte Geschichte. Sein Onkel ist in den Westen abgehauen. Er hat das Grundstück nach der Wende wiederbekommen. Kaum waren die Eigentumsverhältnisse geklärt, ist er gestorben. Auf diese Weise ist es wieder in Ostbesitz übergegangen. Segeln Sie auch? Hier am Rhein haben Sie bestimmt gute Möglichkeiten.
Evelyn Das schon. Joseph war als Junge im Ruderclub.
Sylvia Den Segelschein habe ich erst seit letztem Jahr. Robert hat gar keinen. Das Kommando an Bord, das habe ich. Evelyn, Sie müssen uns unbedingt im nächsten Sommer besuchen.
Evelyn Ich beneide Sie, Sylvia. Sie unternehmen wenigstens was am Wochenende. Joseph hängt mindestens den halben Samstag in seiner Kanzlei. Früher haben wir noch Tennis gespielt oder sind Rad gefahren. Jetzt machen wir allenfalls sonntags einen Spaziergang durch die Weinberge. Ich kann sie langsam nicht mehr sehen.Zeigt Richtung Veranda: Der Mönchsgarten, 18 Jahre der gleiche Blick. Hier ist doch nichts los. Im Sommer hat jedes Dorf sein Winzerfest und im Herbst das Schützenfest. Eventkultur auf dem Lande. Joseph schleppt mich überall mit. Er meint, als eine Art Amtsperson müsste er sich dort blicken lassen. Es geht mir so auf die Nerven. Wenn ich mir vorstelle, die Wochenenden am See zu verbringen, in einem kleinen Häuschen, lange schlafen, Bücher lesen, ohne Fernsehen, kein Telefon, kein Computer, nur Ruhe, Sonne und frischer Wind, und ein bisschen kuscheln ...
Sylvia Auch auf die Gefahr hin Sie zu enttäuschen: Wir haben in unserem Häuschen einen Fernseher - mit Satellitenschüssel, versteht sich, und über 30 Programmen. Und wenn ich ehrlich sein will, kuschelig war’s bei uns früher öfter. Immerhin sind wir fast 20 Jahre zusammen, mit kleinen Unterbrechungen.
Evelyn Unterbrechungen?
Sylvia Ach, das ist mir so rausgerutscht. Na ja, ich war nicht immer ganz brav - Robert auch nicht, jeder einmal. Eins zu eins. Beides ist über 10 Jahre her und längst vergessen. Der Einbruch des Westens in den Osten hat viele Verwicklungen mit sich gebracht, nicht nur gesellschaftliches oder wirtschaftliches Chaos, auch zwischenmenschliche Turbulenzen.
Evelyn Sylvia, Sie und Robert haben jeder einen aus dem Westen ausprobiert. Interessant. Test the Wessi.
Sylvia Ich möchte das lieber nicht vertiefen.
Evelyn Okay, ich verstehe.Pause. Hm, schade.
Sylvia Der Kerl hat nichts getaugt. Ich habe schnell eingesehen, mein Robert ist der Beste.
Evelyn Hier in diesem Dorf kann man sich keine Affäre leisten. Es würde sofort überall herumgetratscht. Um Himmels Willen, denken Sie nicht, ich wäre jemals auf eine Affäre aus gewesen. Joseph und ich, wir sind nach wie vor sehr glücklich und zufrieden miteinander. Nächsten Monat haben wir unseren 18. Hochzeitstag.
Sylvia Und Joseph?
Evelyn Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer.
I.7 Evelyn, Sylvia und Joseph
Joseph kommt zurück. Er hält die Hand auf dem Rücken.
Joseph Robert zieht sich ein frisches Hemd an. Er meint, das Bett wäre bequem genug. Ich habe im Kleiderschrank ein bisschen Platz gemacht und - rate mal, was wir gefunden haben.Er zieht hinter seine Rücken ein Wagner-Barett hervor. Na, wie steht mir das?Setzt es auf.
Evelyn Furchtbar. Wie kommst du daran? Willst du das etwa mitnehmen?
Joseph Natürlich nicht. Ich dachte, nächsten Karneval könnte ich als Richard Wagner gehen.
Sylvia Er sieht doch gar nicht so schlecht damit aus. Ich finde, es steht ihm.
Evelyn Mach dich nicht lächerlich. Setz es bitte wieder ab.Er setzt es ab und drapiert es auf die Wagner-Büste. Das soll unter Waltrauds Sachen gewesen sein?
Joseph Keine Ahnung. Aber ein tolle Überraschung.
Evelyn Waltraud wird uns das erklären müssen.
Sylvia Sie entschuldigen mich jetzt.
Joseph Ja, bitte.Begleitet Sylvia Richtung Wohnzimmertür. Ihr Zimmer ist zwei Treppen hoch. Robert ist noch oben. Das Bad ist hier links, gleich um die Ecke.Sylvia nach rechts ab.
Evelyn Ich wollte mich auch noch umziehen. Was ist mit dir?
Joseph Ich kann das eigentlich anlassen.
Evelyn Wie du meinst.Geht nach rechts ab.
I.8 Robert, Evelyn und Joseph
Im gleichen Moment kommt Robert herein. Sie stoßen beinahe aneinander. Robert hat ein anderes Hemd an.
Robert verlegen Oh, Entschuldigung.
Evelyn Sind Sie immer so stürmisch?
Robert Ja. Nein, ich meine, nein. Ich bin die Treppe zu schwungvoll hinunter.
Evelyn Alle guten Dinge sind drei.Endgültig ab.
I.9 Robert und Joseph
Joseph Setzen Sie sich, mein lieber Freund.Robert setzt sich wieder in den rechten Sessel, Joseph rechts auf das Sofa. Joseph schenkt beiden Sekt ein. Zum Wohl.
Robert Sie haben eine sehr sympathische, sehr natürliche Frau.
Joseph Ja, ich weiß, ich bin immerhin demnächst 19 Jahre mit ihr verheiratet. Wie lange sind Sie?
Robert Ein Jahr mehr. Im Dezember werden es 20.
Joseph Ach, das hätte ich nicht gedacht. Dann sind Sie ja auch ein alter Ehehase.
Robert Solange man dabei nicht zum Ehekrüppel wird.
Joseph Sylvia sieht nicht danach aus, als ob man bei ihr zum Ehekrüppel werden könnte.
Robert Das haben Sie sehr treffend gesagt. Glauben Sie mir, Sylvia und ich, dass soll jetzt nicht angeberisch wirken, wir sind wirklich sehr glücklich miteinander.
Joseph Keine Wolken der Trübung? Sehr schön.
Robert Nein, keine. Höchstens mal ein klitzekleines Wölkchen, das schnell vorbei ist.
Joseph Und dann haben Sie ja auch die gemeinsame Leidenschaft für die Musik Richard Wagners.
Robert Ach, wissen Sie, von uns beiden ist Sylvia die eigentliche Wagner-Enthusiastin. Sagen wir mal, meine Vorstellungen von Musik sind deutlich weiter gefasst. Natürlich mag ich seine Musik. Er hat bedeutendes, unvergleichliches für das Musiktheater geleistet. Ich bin wirklich sehr gespannt auf Bayreuth. Anfang der 80er, Sylvia und ich waren erst seit kurzem zusammen, haben wir zum ersten Mal gemeinsam die Übertragungen im Radio gehört. Vom SFB. Wir haben damals beide in Berlin studiert. Der erste Aufzug der Götterdämmerung ist mir heute noch sehr lebendig in Erinnerung. Wir lagen die ganze Zeit im Bett. Einschließlich der beiden Vorspiele.
Joseph Eine interessante Art der Wagner-Rezeption.
Robert Eine unvergessliche.
Joseph Wahrscheinlich wäre jeder Mann in Sylvias Armen sofort zum Wagnerianer geworden.
Robert Ganz sicher.
Joseph nachdenklich: Der erste Aufzug mit den beiden Vorspielen ist aber auch ziemlich lang.
I.1 Evelyn, Joseph, Robert und Sylvia
Evelyn und Sylvia kommen gemeinsam herein. Sie haben sich umgezogen.
Evelyn Wir haben Hunger. Wir gehen jetzt zu Luigi. Die beiden haben seit dem Frühstück nichts gegessen. Joseph, was schaust du so versonnen?
Joseph Jetzt schon? An mir soll’s nicht liegen.
Robert Ich hätte nichts dagegen.
Joseph steht auf. Ist die Kaffeemaschine aus?
Evelyn Ja. Der Backofen ist auch abgestellt.
Joseph Ich gehe trotzdem noch mal kurz in die Küche. Ich lege noch etwas Wein und Sekt in den Kühlschrank.Er begibt sich in die Küche und nimmt sein und Evelyns Glas mit.
Evelyn Es ist genug drin.Pause. So ist das immer.Geht zur Regalwand. Die Anlage ist noch an.Sie geht zur Stereoanlage und schaltet sie ab. Und der Video-Recorder. Was ist das?Laut: Joseph, was ist das für eine Kassette, die im Video-Recorder drin ist?
Joseph aus der Küche: Ich komme gleich.
Evelyn Steht nichts drauf. Wie üblich.Wieder laut: Joseph, könnte es sein, dass ...
Joseph kommt herein. Wo war die Kassette? Ist sie zurückgespult?
Evelyn Ja. Sie war im Recorder drin.
Joseph Oh, könnte ‚Der Schrecken der Medusa‘ sein.
Robert Den haben wir neulich auch gesehen.
Sylvia Mit Richard Burton.
Evelyn zu Joseph: Nein! Bitte nicht das.Zu Robert und Sylvia: Das war der Film, den meine Schwiegermutter mitnehmen wollte.Wieder zu Joseph: Und was hat Waltraud stattdessen erwischt.
Joseph Lass mich mal überlegen, was ich zuletzt aufgenommen habe.Nach einer kurzen Pause: Es war eine Sendung im ZDF, spät nachts. Eine Musiksendung. Ich sag’s dir lieber nicht. Wir gehen jetzt zu Luigi.Das Telefon klingelt. Geh nicht dran.
Evelyn Meinst du, es ist Waltraud?
Joseph Wenn es etwas Wichtiges ist, kann sie es ja auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Lasst uns gehen. Ich habe solchen Hunger.
Sylvia Vielleicht ist es für uns. Wir haben für Notfälle Ihre Telefonnummer angegeben.
Joseph Dann ist es sicher nichts Angenehmes und das sollten Sie sich jetzt nicht antun. Außerdem ist es garantiert meine Mutter. Ich merke es direkt am Klingeln. Wir lassen uns später überraschen. Dann ist alles halb so schlimm. Kommt, auf zu Luigi.Sie gehen alle schnell nach rechts ab. Evelyn schließt noch rasch die Verandatüre. Das Telefon klingelt weiter. Nach dem 5. Klingeln hört man die Stimme von
Joseph Hier ist der Privatanschluss von Dr. Evelyn Stein und Dr. Joseph Stein.
Vorhang.
II. Akt Die Walküre
Die Bühne ist dunkel. Man hört von rechts Stimmen. Das Licht geht an. Evelyn, gefolgt von Robert, betritt die Bühne.
II.1 Evelyn und Robert
Evelyn Ich räume rasch auf.Sie nimmt die restlichen beiden Sektgläser und begibt sich damit in die Küche. Auf dem Weg dorthin: Setz dich doch bitte, Robert. Bleibst du bei Weißwein? Oder erst einen Kaffee, Espresso? Bier haben wir leider nicht da.
Robert bleibt zunächst stehen. Dann Wein bitte.Er geht zum Regal, betrachtet das Telefon, bleibt einen Moment stehen und setzt sich dann rechts auf das Sofa. Wo bleiben bloß die beiden?
Evelyn aus der Küche: Joseph ist auf dem Heimweg immer so trödelig.Kommt aus der Küche mit einer Flasche Wein und einem Korkenzieher, die sie Robert gibt. Wärst du so nett.Sie geht zum Regal und holt Weingläser. Ich glaube, er erklärt Sylvia jeden Rebstock einzeln. Was Weine und Reben angeht, ist er ein Experte. Er kennt seine Heimat.Sie öffnet die Verandatür. Ein bisschen frische Luft kann nicht schaden.Sie setzt sich dann neben Robert auf das Sofa. Robert öffnet die Weinflasche.
Robert Evelyn, ich muss Ihnen etwas gestehen, eh, ich meine, dir.Er schenkt ein.
Evelyn Nein, Robert, ich mag keine Geständnisse nach dem Abendessen. Frühestens wieder ab Mitternacht. Außerdem kann ich mir denken, worum es geht. Du wolltest sagen, dass es dir peinlich war, dass Joseph eure Einladung zum Essen abgeschlagen hat und klammheimlich alles bezahlt hat. Vergiss es, bitte. So ist er nun mal. Lass uns etwas trinken.
Robert Prost, Evelyn.Sie stoßen an.
Evelyn Prost.Sie trinken. Ich muss sagen, ich hatte ein bisschen Bammel vor diesem Abend. Um ehrlich zu sein, ich war gar nicht begeistert von Josephs Idee, euch hierher zu bitten und dann gemeinsam nach Bayreuth zu fahren. Aber ich bin sehr froh, dass ihr hier seid.
Robert Mir ging es genauso. Auf der ganzen Fahrt hatte ich ein ziemlich mulmiges Gefühl im Bauch. Kaum waren wir hier, war alles wie weggeblasen. Du bist nicht aus dieser Gegend?
Evelyn Nein, aus der Nähe von Hamburg. Aus Holstein. Gar nicht so weit weg von Wismar, wenn ich mir’s überlege. Joseph und ich, wir haben uns während des Studiums kennen gelernt. In Berlin.
Robert Wie wir. Nur auf der anderen Seite.
Evelyn Du wirst nie draufkommen, wo wir uns getroffen haben.
Robert Bei einer Demo oder bei einer Hausbesetzung?
Evelyn lacht: Oh nein, nicht mit Joseph. Mich hättest du da antreffen können. Ich habe sogar mal in einem besetzten Haus gewohnt. Na ja, immerhin eine Woche.
Robert In der Mensa habt ihr euch bestimmt nicht getroffen.
Evelyn Nein, die Mediziner und die Juristen sind viel zu weit auseinander. Halt dich fest: in der Oper und zwar - bei der Walküre.
Robert Donnerwetter, das passt. Es soll noch andere Paare geben, die sich bei Wagner-Opern verliebt haben.
Evelyn Ich hatte einen Professor, ein Österreicher. Weißt du, was er mich als erstes gefragt hat, als ich in seiner Sprechstunde war?Versucht österreichischen Tonfall: Sind Sie Wagnerianerin?Wieder normal: Ich hatte natürlich keine Ahnung von Wagner. Ich wäre damals nie in die Oper gegangen, höchstens in ein Konzert von Georges Moustaki oder Leonard Cohen. Kurz danach gab’s an der Deutschen Oper die Walküre. Na ja, ich dachte mir, kann ja nicht schaden und habe mir eine Karte besorgt. Auf dem Platz neben mir saß ein junger Jura-Student, der offensichtlich sehr viel Ahnung hatte. Er hat sofort mitbekommen, dass mir die Opernwelt völlig fremd war, und erst recht Richard Wagner. In den Pausen hat er sich rührend um mich gekümmert, hat mir die ganze Geschichte erzählt, von Sieglinde, die mit Hunding unglücklich verheiratet ist, und Siegmund, ihrem Bruder, und wie sich die beiden verlieben und erkennen, dass sie Geschwister sind.
Robert „Braut und Schwester“. Ich kenne die Geschichte.
Evelyn Ja, natürlich. Ach, ja, es war ein unvergesslicher Abend. Wie lange ist das her. Er hat mir danach noch stundenlang vom Ring des Nibelungen erzählt. Es hat bis in den frühen Morgen gedauert, bis er mich zum ersten Mal geküsst hat. Komisch, es ist die einzige Wagner-Oper geblieben, die ich je gesehen habe. Natürlich habe ich sie alle gehört. Hier. Joseph hat allein vom Ring 5 Gesamtaufnahmen. Anfangs als er mich mitnehmen wollte, ist immer etwas dazwischen gekommen. Robert, ich muss dir etwas gestehen, und nachdem ich dich bei Tisch so, wie soll ich das sagen, so verständnisvoll erlebt habe, denke ich, dass du mir nicht böse bist.
Robert Was immer es ist, - wird versprochen.
Evelyn Wirklich?Kurze Pause, Robert nickt. Ich mag keine Wagner-Opern und - am liebsten möchte ich gar nicht nach Bayreuth.
Robert Du befindest dich nicht in schlechter Gesellschaft, Evelyn. Es ist bestimmt kein Charakterfehler, Wagner-Musik nicht zu mögen.
Evelyn Danke.Sie ergreift kurz seine Hand.
Robert Ich kenne Menschen, die empfinden sie als Folter.
Evelyn Waltraud würde dem sofort zustimmen.
Robert Bei einem meiner Fachkollegen hört die Musikgeschichte 1827 auf. Er meinte einmal über die Musik von Debussy, das wäre so, wie wenn man sich mit dem Hintern aufs Klavier setzt.
Evelyn lachend: So schlimm ist es bei mir nicht. Aber du kannst mich verstehen. Wenn die Opern wenigstens nicht so lang wären. Es gibt ja ganz hübsche Passagen. Joseph hat mir mal einen stundenlangen Vortrag darüber gehalten, warum die Akteure sich laufend Geschichten erzählen, die man schon längst kennt. Wotan singt ständig von seiner Vergangenheit. Und dann dieses bombastische Blechgetöse, diese Gigantomanie. Alles nur mit einem riesigen Orchester zu machen. Und der Text! Andauernd Stabreime und dieses verquaste Deutsch. „Wenn kindisch lallend, der Helden Lob von holden Lippen dir floss.“ Das klingt doch idiotisch. Oder „schwüles Gedünst, schwebt in der Luft, ...
Robert ... lästig ist mir der trübe Druck.“ Der besagte Kollege sprach in Anlehnung daran nur von schwülstigem Scheiß. Sagen wir mal, der Text ist problematisch, das stimmt schon. Ich stelle mir vor, man lässt über den Text die Rechtschreibhilfe laufen. Man bekäme tonnenweise Fehlermeldungen und bestimmt sehr lustige Änderungsvorschläge. Evelyn, du musst bedenken, es sind Operntexte. Die kannst du nicht isoliert von der Musik betrachten. Wenn du so willst, gibt es in Mozart-Opern auch jede Menge textlichen Mist.
Evelyn Aber doch nicht so. Oder singen die Menschen bei Mozart auch von ‚reisigen Maiden‘ und ‚zullenden Kindern‘? Ach, Robert, wenn ich an Bayreuth denke, 15 Stunden an vier Abenden, - mir wird ganz anders.
Robert Warum bleibst du dann nicht hier, obwohl ich es sehr bedauern würde, wenn ich die nächsten Tage auf deine Gesellschaft verzichten müsste. Oder du kommst einfach nur mit nach Bayreuth, ohne Oper. Der Ort besteht schließlich nicht nur aus dem Festspielhaus.
Evelyn Du musst verstehen: Joseph versucht seit ein paar Jahren an Karten für Bayreuth zu kommen. Natürlich bestellt er welche für mich mit und natürlich hat er mich nie gefragt, ob mich das überhaupt interessiert. Er war so glücklich, als die Zusage kam.
Robert Evelyn, ich möchte dich um etwas bitten, bevor Joseph zurück kommt. Wahrscheinlich wirst du meinen Wunsch merkwürdig finden, aber ich habe meine Gründe.
Evelyn Ja, und was?
Robert Auf dem Anrufbeantworter ist offenbar eine Nachricht drauf.
Evelyn Das hätte ich beinahe vergessen. Gut, dass du mich erinnerst. Es wird Waltraud sein.
Robert Nein, ich bin ganz sicher, der Anruf war für uns. Könntest du hingehen und ihn einfach löschen.
Evelyn irritiert: Bitte?
Robert Ja, mach' es. Du könntest notfalls sagen, du hättest ihn versehentlich gelöscht.
Evelyn Und wenn es doch Waltrauds Anruf war oder jemand anderes?
Robert Wir könnten ganz kurz die Stimme hören. Und wenn ich sie erkenne, dann mache ich sohält einen Daumen nach unten und du löschst die Nachricht.
Evelyn überlegt: Gut, das könnten wir machen.Sie will aufstehen, setzt sich aber sofort wieder hin. Zu spät.
II.2 Evelyn, Robert und Joseph
Joseph kommt durch die Wohnzimmertüre und sieht die beiden an. Zitierend: „Wie gleicht er dem Weib, der gleißende Wurm.“Wieder normal: Sylvia ist noch für ‚kleine Mädchen‘.
Robert Willkommen Hunding. Wir haben gerade über dich gesprochen.
Joseph Ah, so ein übler Kerl war Hunding nicht. Hat ja auch keine schlechte Musik abbekommen. Immerhin hat er ein armes, verwaistes Mädel geheiratet. Wusstest du, dass Evelyn auch Vollwaise war, als wir geheiratet haben? Verarmt war sie Gott sei Dank nicht. Hat sie dir von unserer Hochzeit erzählt, als ein „Greis im grauen Gewand“ eintrat, ein Einäugiger mit Schlapphut, der der Gramvollen Trost verkündete ...
Evelyn zu Robert, der sichtlich irritiert ist: Glaub' ihm ja kein Wort. Das ist einer von Josephs typischen Scherzen.
Joseph Auf unserer Hochzeit hatten wir tatsächlich einen einäugigen Gast mit einem beachtlichen Hut.
Evelyn Wotan in Gestalt meiner Tante Käthe.
Robert Darf ich raten, was sie als Geschenk mitgebracht hat? Da ich hier im Zimmer keine Weltesche sehe, in der ein Schwert steckt, tippe ich auf etwas kleineres, einen Brieföffner.
Evelyn Nicht schlecht, Robert, dafür kann ich dir einen halben Punkt geben. Nein, viel besser: Es war ein Messerblock, lauter kleine Nothungs aus „neidlichem“ Edelstahl. Bis auf zwei sind alle noch in Betrieb. Du kannst sie in der Küche bewundern.
Joseph Spaß beiseite. Ich denke, wir haben uns einen Espresso und einen Grappa verdient.
Evelyn Die Kaffeemaschine ist schon an.
Joseph Ich sehe, ihr seid schon beim Wein. Ich bin untröstlich, dass wir nicht Luigis wunderbaren Grappa probieren konnten.
Evelyn Ja, schade, dass bei Luigi kein großer Tisch mehr frei war. Ich möchte keinen.
Joseph geht an das Regal, öffnet den Teil, in dem die Gläser sind und holt eine Schnapsflasche - höchstens 0,5 Liter - heraus. Er blickt zum Telefon. Ah, da blinkt ja der Anrufbeantworter. Ich kann Waltrauds Kanonade jetzt nicht ertragen und werde den Anruf einfach löschen.
Evelyn Und wenn es jemand anderes ...
Joseph Pech. Nein, ich will jetzt keine Störungen. Ich werde notfalls sagen, ich habe die Nachricht versehentlich gelöscht. Ist dir doch schon ein paar Mal passiert. Das ist aber auch ein furchtbar unhandliches Gerät. Wer das erfunden hat.
Evelyn zu Robert: Es ist das alte Gerät aus Josephs Büro.
Joseph Was hat eigentlich die Menschheit früher ohne diesen technischen Schnickschnack gemacht. Jetzt haben wir nur ein paar Dinge mehr, über die wir uns ärgern können.Über den Anrufbeantworter gebeugt: Wie ging das noch mal?
Evelyn Drück auf den Knopf oben ganz rechts.
II.3 Sylvia, Joseph, Evelyn und Robert.
Sylvia betritt den Raum durch die Verandatüre. Sie hat einen Apfel in der Hand. Hallo zusammen.
Joseph dreht sich um. Sylvia, komm herein und setz dich. Lass die Türe ruhig auf.
Sylvia Sie geht auf das Sofa zu und setzt sich dann in den rechten Sessel. Es war ein wunderbarer Spaziergang. Joseph hat mir alle Rebsorten erklärt. Riesling, Sylvaner, Müller-Thurgau.Zu Robert: Er ist Vorsitzender des Komitees zur Förderung der hiesigen Weinwirtschaft. Ich bin kurz durch euren Garten gegangen.Sie hält den Apfel hoch. Es wird bald regnen. Oh, ist das Grappa oder so etwas. Davon könnte ich einen vertragen.Sie legt den Apfel auf den Tisch.
Joseph Ja, so etwas wie Grappa, die deutsche Ausgabe: Trester. Vom gleichen Winzer, von dem wir hauptsächlich unseren Wein und Sekt beziehen. Robert?
Robert Ich bleibe lieber beim Riesling.
Joseph Und noch ein kleines Geheimnis: Er ist schwarz gebrannt.
Evelyn Ach, Joseph, was macht das. Wir haben ihn geschenkt bekommen.
Joseph schenkt ein Schnapsglas voll und reicht es Sylvia. Wenigstens eine, die mir die Stange hält.Schenkt ein Glas für sich ein. Lieber randvoll als gramvoll. Wir waren gerade bei Hunding, Siegmund und Sieglinde.Er beugt sich zu Sylvia und stößt mir ihr an. Zum Wohl.
Sylvia trinkt. Oh, nicht von schlechten Eltern.
Evelyn Möchte jemand einen Espresso dazu?Robert schüttelt ablehnend den Kopf.
Sylvia Ein bisschen Koffein könnte nicht schaden.
Joseph Das mache ich gleich. Ja, Siegmund und Sieglinde. Als ich eben hereinkam und die beiden sah, wurde ich plötzlich an das Wälsungenpaar erinnert.
Sylvia Ich finde, die beiden sehen nicht im geringsten wie Geschwister aus, geschweige denn wie Zwillinge.
Joseph Ich meine das natürlich im übertragenen Sinne, wie Zwillinge im Geiste, Seelenverwandtschaft.
Evelyn zu Robert: Prost, lieber Zwillingsbruder. In Bayreuth trinken wir Zwillingsbrüderschaft.
Sylvia leicht pikiert: Wie geht das denn? Ist das Brüderschaft mit zwei Küsschen?
Robert Vielleicht, ich lasse mich überraschen.
Joseph Ich mache jetzt den Espresso.Zu Sylvia: Einen doppelten?
Sylvia Ja. Bitte einen Zwillingsespresso.
Joseph geht in die Küche.
Evelyn Wenn ich’s mir recht überlege, dann haben mich eben Sylvia und Joseph stark an Wotan und Brünnhilde erinnert. Was meinst du, Robert?
Sylvia Brünnhilde würde mir gefallen.
Robert Ja, wie sie den Grappa getrunken haben. Wotan beauftragt Sylvia, eh, Brünnhilde, Siegmund beim Kampf gegen Hunding beizustehen, und das besiegeln sie mit einem Gläschen. Wäre mal ein neuer Regieeinfall.
Man hört aus der Küche das Geräusch der Kaffeemaschine.
Evelyn Ich dachte mehr an Wotans Abschied. Wie sich Joseph zu Sylvia gebeugt hat, um mit ihr anzustoßen.
Robert Ich überlege gerade. Dann könnte Wotan zum Abschied singen: „Zum letzten mal letz es mich heut, mit des Lebewohles letztem Schnaps.“
Sylvia Ach, du bist albern. Es heißt Kuss, „des Lebewohles letztem Kuss“.
Robert Küsse sind dir lieber, ich weiß.Wirft ihr einen Kuss zu.
Joseph aus der Küche: Nimmst du Zucker, Sylvia?
Sylvia laut: Nein danke, ohne alles.
Robert leise: Sylvia ist süß genug.
Joseph kommt mit 2 Espressotassen aus der Küche. So, der Espresso. Achtung, er ist sehr heiß.Gibt Sylvia eine Tasse und setzt sich dann in den linken Sessel. Joseph setzt seinen Espresso auf dem Couchtisch ab. Noch mal zu Siegmund und Sieglinde: Ich finde, sie sind mit Abstand das sympathischste Paar im ganzen Ring, und vor allem das glücklichste.
Evelyn Wer könnte auf die Idee kommen, Wotan und Fricka als sympathisches oder glückliches Paar zu bezeichnen? So wie Fricka ihren Wotan im zweiten Akt abwatscht.
Robert Eine starke Szene.
Joseph Ich dachte auch mehr zum Vergleich mit Siegfried und Brünnhilde. Deren Glück ist getrübt durch Verrat und Betrug.
Evelyn Ehebruch ist nach deiner Ansicht kein Betrug. Sieglinde ist immerhin mit Hunding verheiratet.
Joseph verärgert: Du argumentierst genau wie Fricka. Hätte sie sich vorher scheiden lassen sollen?Er trinkt seinen Espresso.
Sylvia Sicher sind Sieglinde und Siegmund ein glückliches Paar. Aber nur für sehr kurze Zeit. Ich möchte nicht mit Sieglinde tauschen. Sie ist am anderen Morgen Witwe und darf nur noch auf der Welt bleiben, um Siegfried zu gebären.
Robert Sie ist sogar doppelte Witwe. Siegmund und Hunding, ihre beiden Männer, wenn man so will, sind tot.
Joseph Ihr Glück ist nur von kurzer Dauer, das stimmt, aber es ist vollkommen. Wenn auch nur für diese eine Nacht. Mehr können sie nicht erreichen.
Sylvia Mir wäre das ein bisschen wenig.
Joseph Sie treffen sich in Walhall wieder.
Evelyn Walhall brennt am Ende der Götterdämmerung ab. Nein, Sylvia hat völlig recht. Eine Nacht, das kann vielleicht ganz schön sein. Wie heißt das auf neudeutsch: ein One-Night-Stand. Aber das bisschen Glück für eine Nacht, was soll das? Außerdem sind die beiden noch sehr jung.
Robert Joseph, Frauen denken da etwas anders.
Joseph Die beiden sind für einander bestimmt, und sie wissen es. Das spüren sie von Anfang an. Sie setzen sich über alle gesellschaftlichen Konventionen hinweg. Ehebruch und Inzest. In größter Not erreichen sie den höchsten Grad der Freiheit und des Glücks. Das ist die Erfüllung ihres Lebens.
Evelyn ironisch: Ach, Joseph, du hast nie die höchste Form des Glücks und der Lust gefunden. Du Armer.
Joseph Das ist doch etwas völlig anderes. Man muss das in der jeweiligen Situation sehen. Eine Frage des Schicksals. Übrigens, wenn ich dich darauf hinweisen darf, ich habe nicht von Lust gesprochen.
Robert Das Glück ist ein flüchtiger Freund.
Sylvia Joseph, erzähle uns, wann warst du das letzte Mal glücklich? Ich meine richtig glücklich.
Joseph Ich bin glücklich, ich kann mich nicht im Geringsten beklagen. Ich bin bester Laune. Wir sitzen hier freundschaftlich zusammen. Morgen fahren wir nach ...Er hustet.
Evelyn Bayreuth. Richtig glücklich war er, als die Zusage für die Karten kam.
Joseph Mir geht es ausgesprochen gut. Hier und jetzt. Ich habe keine gesundheitlichen Probleme.
Evelyn Deine Leberwerte sind in Ordnung, dein Prostatawert auch.
Joseph So genau will das hier keiner wissen. Ja, ich fühle mich bei bester Gesundheit. Auch beruflich muss ich mir keine Sorgen machen. Ich habe eine liebe Frau. Ihr geht es gut, meiner Mutter geht es gut, mir geht es ausgezeichnet. Und wenn ihr euch alle auf den Kopf stellt: Ich bin glücklich. Egal, ob ich Karten für Bayreuth habe oder nicht.Er trinkt. Ja, es war ein großer, ein sehr großer Augenblick, als diesmal die Bestätigung kam. Das gebe ich gerne zu. Nach all den Absagen, jedes Jahr im Januar. Neben dem gewöhnlichen Glück gibt es auch noch die besonderen Glücksmomente.
Evelyn Wie Siegmunds Nacht mit Sieglinde.
Joseph verärgert: Nenn' es bitte nicht wieder One-Night-Stand.
Robert Wenn ich Joseph richtig verstehe, meint er jene Momente, mit denen das Schicksal sehr sparsam umgeht. Die absoluten Höhepunkte. Wenn man im Leben davon ein Dutzend abbekommt, ist das sicher viel. Mir fällt spontan der November 89 ein - ein starkes gemeinschaftliches Erlebnis - oder als Sylvia und ich zum ersten Mal die Götterdämmerung gehört haben. Das ist eine sehr private Geschichte. Um wieder auf den Ring zurückzukommen: Alberichs Bruder Mime zum Beispiel geht völlig leer aus. Eigentlich hat er’s auch nicht anders verdient. Für Siegmund und Sieglinde gibt es nur diese eine Nacht des Glücks. Und dafür lohnt sich ihr ganzes, kurzes Leben.
Joseph Danke, Robert, wenigstens einer, der versteht, was ich meine. Ja, was für ein Augenblick ist das für die beiden? Welche Kraft steckt darin, welche Leidenschaft, was für ein Feuerwerk der Gefühle? Hört doch nur einmal auf die Musik. Von „Winterstürme“ bis zum Schluss des ersten Aufzugs, ist das nicht traumhaft schön. Ich kenne nichts besseres im Musikdrama. Soll ich es einmal auflegen? Ich habe mir erst heute Nachmittag eine wunderbare Aufnahme angehört, mit Wolfgang Windgassen und Martha Mödl.
Robert Lieber nicht. Ich könnte mich jetzt nicht darauf konzentrieren. Es wäre schade um den Genuss.Zweifelnd: Hat die Mödl die Sieglinde gesungen?
Evelyn Du erlebst es doch live in Bayreuth.
Joseph Robert, da hast du recht. Wir hören es ein anderes Mal.
Sylvia Joseph, eines deiner großen Erlebnisse wird Bayreuth werden.
Joseph Was meinst du wohl, worauf ich mich seit einem halben Jahr freue.
Evelyn Und unser Osterurlaub auf Mauritius? War das nichts?
Robert Wollte ich gerade sagen. Für mich war es eindeutig der Höhepunkt des Jahres. Bisher.
Evelyn Komm, du hast mir erzählt, du hast schon als kleiner Junge von Mauritius geträumt.
Joseph Ja, natürlich. Es war ein schöner Urlaub. Ohne Zweifel. Unser Urlaub davor war auch sehr schön. Urlaub zusammen mit dir ist immer ein Vergnügen.
Evelyn Das klang jetzt sehr ironisch, Joseph. Du kannst gerne das nächste Mal die ganze Vorbereitung übernehmen.
Joseph Ich habe das ganz ehrlich gemeint.
Sylvia Ich habe Joseph auch so verstanden.
Evelyn Sylvia, ich kenne ihn 20 Jahre länger als du.
Joseph Was hast du jetzt bloß? Ich habe mich noch nie beschwert. Ich bin immer sehr froh und dankbar, wenn du dich um unseren Urlaub kümmerst.
Robert Wir machen das immer abwechselnd. Mauritius war Sylvias Idee. Ursprünglich hatte ich Sansibar vorgeschlagen. Wie sich herausstellte, war das zu kurzfristig geplant. Das hätte wegen der Impfbestimmungen nicht mehr hingehauen.
Evelyn Wenn ihr mich jetzt kurz entschuldigt. Als ihr heute Nachmittag angekommen seid, wollten wir gerade das Gästebett beziehen. Ich gehe rasch hoch.
Joseph Das ist meine Aufgabe, Evelyn. Ich wollte das übernehmen.
Sylvia Ihr habt eine interessante Aufgabenteilung. Hätte ich nicht erwartet.
Joseph Über mangelnde Unterstützung im Haushalt braucht sich meine Frau nicht zu beklagen.
Evelyn zu Joseph: Lass gut sein. Ich gehe schon.Sie steht auf.
Robert Soll ich dir helfen? Wenn ich mit anpacke, geht’s leichter.
Evelyn Das ist wirklich nicht nötig, Robert, danke.
Robert Ich muss sowieso nach oben. Wir haben euch doch was mitgebracht. Entschuldigt bitte. Hab‘ ich vorhin völlig vergessen.Er steht auch auf.
Evelyn Dann komm' mit.Zu Joseph: Sylvia hat nichts zu trinken.Beide nach rechts ab.
II.4 Sylvia und Joseph
Sylvia Robert ist im Haushalt auch vielseitig verwendbar.
Joseph Sylvia, was darf ich dir jetzt anbieten?
Sylvia Hast du noch von dem Sekt, den wir vorhin getrunken haben? Der war sehr lecker.
Joseph Reichlich. Ich habe mir gedacht, dass du ihn magst. Wenn du mich einen Augenblick entschuldigst.Er steht auf und geht in die Küche und lässt die Küchentüre auf.
Sylvia etwas lauter: Von Sekt wird man beschwingt. Selbst wenn man einen Schwips davon bekommt, ist es lange nicht so schlimm wie von Wein oder Bier.
Joseph kommt mit einer ungeöffneten Sektflasche zurück. Er holt zwei Sektgläser aus dem Schränkchen im Regal und stellt sie auf dem Couchtisch ab. Dann öffnet er die Sektflasche - ohne Knall! Sylvia mit einem Schwips. Ich stelle mir das amüsant vor.Er schenkt ein und setzt sich dann rechts auf das Sofa neben Sylvia.
Sylvia Kommt höchstens zwei Mal im Jahr vor.
Joseph Prost, liebe Sylvia.
Sylvia Prost, lieber Joseph.Sie trinken. An den letzten kann ich mich noch gut erinnern. Leider kam der nicht vom Sekt. Sonst hätte ich anderen morgens nicht solche Kopfschmerzen gehabt. Das war überhaupt nicht amüsant.
Joseph Ein besonderer Anlass?
Sylvia Nein, eigentlich nicht. Es war am vorvorletzten Tag unseres Urlaubs. Robert und ich hatten ein bisschen Stress. Ich habe ihn gesucht und fand ihn in einer Bar am Strand von Grande Baie. Es fällt mir jetzt nicht ein, wie sie hieß. Ich komme gleich drauf. Es war der Name einer Palme, die nur ein einziges Mal blüht.
Joseph Ich glaube, ich kenne die Bar, die du meinst. Wir waren ein paarmal da. Liegt ziemlich am Anfang der Strandpromenade. Gegenüber von diesem chinesischen Supermarkt.
Sylvia Genau die. In gewisser Weise war es schon ein bemerkenswerter Tag. Soll ich dir sagen warum? Weil ich dich an dem Tag zum ersten Mal gesehen habe.
Joseph Moment, Sylvia, wenn ich dich korrigieren darf: Wir haben uns erst am Flughafen getroffen. Ihr standet direkt hinter uns in der Schlange am Check-In-Schalter. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, als dein Handy klingelte und ich mich umgedreht habe.Er macht in der Art eines Klingeltons das Walküren-Motiv nach. Der Walkürenritt.
Sylvia Ich weiß. Aber zum ersten Mal aufgefallen bist du mir zwei Tage vorher. In dieser Bar. Du trugst einen Panamahut und einen beigefarbenen Leinenanzug.
Joseph Hm, lass mich nachdenken. Den Panamahut habe ich mir dort kurz vor unserer Abreise gekauft. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Jetzt weiß ich, wie das ist, wenn Frauen unbedingt einen Hut haben wollen. Stimmt, und danach bin ich in diese Bar gegangen. Ich war dort mit Evelyn verabredet.
Sylvia Ja, sie saß bereits da. Als ich ankam, war Robert schon nicht mehr ganz nüchtern. Er glotzte die ganze Zeit eine Frau an, die ein paar Tische weiter saß und sich mit einem jungen Mann unterhielt. Die beiden war sehr miteinander beschäftigt. Ich glaube nicht, dass sie mitbekommen hat, wie sie angestarrt wurde. Robert meinte, sie sähe aus wie eine französische Filmschauspielerin.
Joseph Das soll Evelyn gewesen sein?
Sylvia Genau, es war Evelyn. Es war nicht besonders voll. An einem großen Tisch saßen noch 8 oder 9 Frauen, offensichtlich Französinnen. Robert meinte, es müssten Metzgersfrauen aus der Provinz sein. Furchtbare Weiber, sie waren schrecklich laut.
Joseph Ja, ich erinnere mich. Diese Weiber, wie du sagst, logierten in unserem Hotel. Ich glaube, es waren Belgierinnen. Du hättest sie mal erleben sollen, wie sie abends an der Hotelbar die jungen Burschen angemacht haben. Schlimm, schlimm!
Sylvia Eine kam etwas später und hat eine Riesenszene hingelegt. Na, egal. Ich war mal kurz für kleine Mädchen, und als ich wiederkam, war der junge Mann verschwunden und stattdessen saß dort ein eleganter Herr mit Panamahut.Sie trinkt.
Joseph Hm, was ich nur nicht verstehe ist, dass du mir bei dieser Gelegenheit nicht aufgefallen bist. Ich bin doch sonst nicht blind.
Sylvia Ihr wart nur noch sehr kurz da. Du hast einen Espresso getrunken, und dann wart ihr auch schon wieder weg. Es war schon dunkel, als du kamst. Ihr habt euch über den Hut unterhalten. Du hast ihn ein paar Mal ab- und wieder aufgesetzt. Evelyn hat er offenbar gut gefallen. Ich glaube, du hattest nur noch deinen Hut im Kopf.
Joseph Was mich sehr irritiert, eh, interessiert: Welche französische Schauspielerin soll das sein, der Evelyn ähnlichsieht?
Sylvia Das musst du Robert fragen. Ich weiß es wirklich nicht mehr. Obwohl ich eher glaube, dass er sich nicht mehr daran erinnert. Auf jeden Fall war es kein schlechter Vergleich. Ich hätte es als Kompliment empfunden.Sie trinkt. Das nächste Mal habe ich dich am Flughafen gesehen. Du hattest wieder den Panamahut auf. Ich habe dich sofort entdeckt. Robert hat noch die Koffer geholt und ich habe mich schon mal in die Warteschlange gestellt. Der Platz direkt hinter euch war noch frei. Ich dachte, den Hut muss ich mir unbedingt näher ansehen.
Joseph Sylvia, du überraschst mich. Hätte ich das geahnt.Er trinkt. Was hat dich mehr interessiert? Der Hut oder der Kerl darunter?
Sylvia Willst du das wirklich wissen?
Joseph Unbedingt!
Sylvia Wärst du enttäuscht, wenn ich sagen würde: der Hut?
Joseph Ein bisschen.
Sylvia Lass es mich so sagen: Es ist wie mit einem gut gemachten Buch. Zuerst betrachtest du den Umschlag, wirst neugierig, fasst den Einband an. Dann schlägst du es auf und fängst an zu lesen. Reicht dir das, Joseph? Was ist ein Hut ohne seinen Träger? Prost, mein Lieber.
Joseph Sylviasie stoßen an und trinken und das Buch Joseph.
Sylvia Nun musst du mir verraten, was du gedacht hast, als du mich das erste Mal gesehen hast. Und nicht flunkern!
Joseph Wofür hältst du mich? Ich weiß es noch genau. Dieses Chaos beim Abflug. Die Maschine hatte Verspätung und alle Anschlussflüge mussten umgebucht werden. Du erinnerst dich bestimmt. Alle waren ziemlich nervös.
Sylvia Lenk jetzt nicht ab.Sie macht den Klingelton nach: das Walküren-Motiv.
Joseph Als ich das Handy hinter mir hörte, war ich - wie elektrisiert. Du musst mir unbedingt erklären, wie man das als Klingelton einstellen kann.
Sylvia Ich hab’s verloren. Joseph, du lenkst schon wieder ab. Sag, was hast du damals gedacht?
Joseph Als ich mich umsah und dir in die Augen schaute, wusste ich sofort: eine Seelenverwandte.Er ergreift ihre Hand.
Sylvia Du hast mir nicht nur in die Augen geschaut.
Joseph Kannst du mir das verübeln.Sie schauen sich intensiv an.
Sylvia Nicht wirklich.
Joseph Auch wenn du wieder meinst, ich schweife ab, Sylvia, ich möchte auf etwas zurückkommen ...Er lässt ihre Hand los.
Sylvia Auf was?
Joseph Du erinnerst dich. Vorhin, im Engel, beim Nachtisch haben wir beschlossen, uns zu duzen.
Sylvia Tallipot.
Joseph Was? Du hattest Mousse au Chocolat.
Sylvia Ich meine die Palme. Das Café hieß Bar Tallipot. Es fiel es mir gerade wieder ein. Die Palme, die nur ein einziges Mal blüht. Dazu braucht sie rund 50 Jahre. Dann blüht sie und stirbt. Wir haben sie im Botanischen Garten gesehen. Sie hat auch nur einen schönen Moment im Leben.
Joseph Es ist bestimmt ein sehr schöner Moment im Leben einer Pflanze, wenn sie blüht. Dann bekommt sie auch viel Besuch. Ich wollte aber gerade auf etwas anderes zu sprechen kommen.
Sylvia Ah, ja, ich weiß, Joseph, du Schelm. Du vermisst das Brüderschaftsküsschen.
Joseph steht auf und begibt sich auf den Rand des Sessels, in dem Sylvia sitzt. Genau, du bist eine sehr kluge Frau. Diesen schönen Brauch wollen wir doch nicht vernachlässigen. Joseph mag schöne Bräuche und bewundert kluge Frauen.
Sylvia Halt, mein Lieber. Weil wir eben über Telefone gesprochen haben: Du weißt, als wir vorhin von hier aufgebrochen sind, kam ein Anruf. Sieh doch bitte mal nach, ob ...
Joseph Hab ich schon. Ja, es ist eine Nachricht drauf. Ich wollte sie gerade löschen, als du hereinkamst.
Sylvia So? Wer war’s denn?
Joseph Waltraud, wer sonst? Ich lösche sie gleich.
Sylvia Oh, schlecht, eh, ich meine gut.Joseph beugt sich zu Sylvia. Sehr gut.Sie küssen sich.
II.5 Joseph, Sylvia, Robert und Evelyn
Robert und Evelyn kommen lachend zur Verandatüre herein. Sie sehen Joseph und Sylvia, die sich gerade küssen. Das Lachen der beiden erstirbt.
Robert räuspert sich, Joseph und Sylvia erschrecken und fahren auseinander. Oh, stören wir?Joseph steht auf.
Joseph Wir haben nur das Brüderschaftsküsschen nachgeholt. Wo wart ihr so lange?
Evelyn Aha. Brüderschaft. Hätte ich mir gleich denken können. Lieber Bruder Robert, komm näher.Sie geht zum Regalschränkchen und schenkt zwei Gläser Trester ein.
Robert Wir haben zufällig noch ein Album deiner Mutter mit Fotos von Sizilien gefunden. Schöne Aufnahmen aus Palermo und von den Tempeln von Agrigent.
Joseph steht auf. Das muss um 1960 gewesen sein, ein oder zwei Jahre nach Vaters Tod. Sie hat damals eine große Italienreise gemacht - auf Goethes Spuren.
Sylvia Robert, wo hast du unsere Mitbringsel?
Robert Ach, wie blöd von mir. Hab ich vergessen.
Sylvia Mit Evelyn Betten beziehen und Fotos ankucken war sicher spannender.
Evelyn reicht Robert ein gefülltes Schnapsglas. Joseph schenkt Sylvia Sekt in ihr Glas. Das Glas ist, nachdem der Schaum sich gelegt hat, etwa halb voll. Robert!
Robert irritiert: Ich trinke eigentlich keine harten Sachen.
Sylvia Ach, seit wann das?
Robert Das weißt du genau.
Joseph zu Evelyn: Schenk mir auch einen ein.
Evelyn Du bist jetzt nicht dran.Joseph greift die Schnapsflasche und bedient sich selbst.
Robert nimmt das Glas an. Weil du’s bist.Joseph trinkt.
Evelyn stößt mit Robert an. Sie und Robert kreuzen die Arme mit den Gläsern in der Hand . Lieber Robert, ich heiße Evelyn.
Robert Liebe Evelyn, ich heiße Robert.Sie wollen sich küssen, wissen aber zunächst nicht, ob auf den Mund, entscheiden sich dann für je ein Küsschen auf die linke und rechte Wange. Joseph trinkt inzwischen einen weiteren Schnaps, Sylvia leert ihr Sektglas.
Joseph Das wäre jetzt wirklich nicht nötig gewesen.
Evelyn Wir haben dir nur gezeigt, wie das geht. Brüderschaft geht auch ohne Knutscherei.
Sylvia steht auf und hält ihr Sektglas hin. Zu Joseph: Noch mal.Joseph schenkt ihr ein. Schütt rein. Nicht schlabbern.
Joseph Wir haben überhaupt nicht wüst geknutscht. Nicht wahr, Sylvia?Sylvia nickt und trinkt. Das war etwa so wie bei Wotan und Brünnhilde.
Evelyn Ja, ja, ein Abschiedsküsschen. „Zum letzten Mal letz es mich heut.“ Mach nur so weiter, Joseph. Dann kannst du ohne mich nach Bayreuth fahren.
Robert Ich hole jetzt die Gastgeschenke.
Evelyn Robert, du bleibst hier. Mach das morgen.
Sylvia Evelyn, das wäre doch jammerschade. Denk an die Eintrittskarten. Die Gelegenheit bekommst du so leicht nicht wieder.
Evelyn Ist mir herzlich egal. Joseph wird die Karten garantiert los.
Joseph Apropos Karten.Zu Robert und Sylvia: Was habt ihr eigentlich für Plätze? Wir sind in Block D.
Sylvia Das musst du Robert fragen, das Organisationsgenie.Sie setzt sich wieder in den rechten Sessel.
Robert Ich hab’s vergessen. War auf jeden Fall nicht ganz billig. Ich wollte eh nach oben.
Evelyn Nein, Robert, bleib. Das ist doch jetzt nicht wichtig. Joseph, wolltest du während der Vorstellung Sylvia zuwinken? Kuck mal, da drüben sind Sylvia und Robert, huhu.
Joseph Wäre doch schön zu wissen, wenn wir nahe beieinander sitzen.
Evelyn Wo sind überhaupt unsere Karten? Du hast sie mir nicht einmal gezeigt.
Joseph Du hast mich auch nicht danach gefragt. Ich habe sie an einem sicheren Ort.
Evelyn Oh ja, du hast sie wieder in einem Buch versteckt. Das hat er in irgendeinem Roman gelesen, wo Leute ihr Geld in einem Buch von Goethe versteckt haben. Wir hatten einmal Premierenkarten für die Drei Schwestern von Tschechow. Leider steckten die Karten nicht wie üblich in Goethes Faust. Eine halbe Stunde haben wir gesucht und wären beinahe zu spät gekommen.
Robert Sollen wir uns nicht wieder setzen?
Evelyn Ich wüsste gerne, wo du sie diesmal hingetan hast.
Joseph Sie sind an einem sicheren Platz.
Evelyn Zeig sie bitte her.
Joseph Möchtest du wissen, wie sie aussehen?
Evelyn Das interessiert mich überhaupt nicht. Von mir aus können sie knatschgrün und kariert sein. Ich möchte nur nicht das Theater wie bei den Drei Schwestern noch mal mitmachen.
Joseph Robert, würdest du Evelyn bitte beschreiben, wie die Karten aussehen.
Robert Ich darf mich wieder setzen.
Evelyn Aber bitte.Robert setzt sich rechts auf das Sofa, Evelyn setzt sich daneben.
Robert Ich weiß nicht wie die Karten aussehen. Sie sind immer noch in dem Umschlag, wie ich sie bekommen habe. Ich habe nicht reingeschaut.
Evelyn Bitte?
Robert Ich habe Sylvia gefragt, möchtest du sie sehen, und sie hat den Kopf geschüttelt.
Sylvia Stimmt. Hat mich nicht interessiert. Außerdem weiß ich, wenn mein Robert was in die Hand nimmt, dann läuft das.
Evelyn Und du hast nicht in den Umschlag gesehen?
Robert Nein. Warum? Wir müssen allerdings dazu sagen, wir haben die Karten nicht über den regulären Vorverkauf bekommen.
Joseph Was? Auf dem Schwarzmarkt? Das habe ich auch schon versucht. Über einen Bekannten. Leider ohne Erfolg.Er setzt sich in den linken Sessel.
Robert Nein, nein. Ein Kollege, Mathematik und Physik, er ist aus dem Westen, also dieser Kollege hat eine Tante in München. Tante Vera und deren Schwägerin, Tante Hedwig, so heißen sie, glaube ich, die beiden fahren schon ziemlich lange nach Bayreuth und hatten auch für dieses Jahr wieder Karten. Beide sehr alte Damen. Leider ist Tante Hedwig im Januar gestorben. Alleine wollte Tante Vera nicht fahren und hat freundlicherweise die Karten ihrem Neffen angeboten. Dieser Kollege weiß, wie sehr sich Sylvia sich wünscht, einmal live den Ring in Bayreuth zu erleben. Ich natürlich auch. Er selbst ist völlig unmusikalisch und findet Richard Wagner scheußlich.
Sylvia Das stimmt gar nicht. Weißt du noch, wie er an meinem letzten Geburtstag so ein altes englisches Lied gesungen hat. Ein Liebeslied. Ach war das schön. So ergreifend …
Robert Herzergreifend falsch, liebe Sylvia. Wie gesagt, der Kollege ...
Sylvia Und er spielt sehr gut Schach. Du spielst doch immer mit ihm.
Robert Er hat in den letzten zwei Jahren keine einzige Partie gegen mich gewonnen.
Joseph Ach, du spielst Schach. Das ist schön. Wir müssen unbedingt in Bayreuth Schach spielen.
Robert Ja, gerne, Joseph.
Joseph Evelyn, denk doch bitte mit dran, dass ich das Schachspiel einpacke.
Evelyn verärgert: Ja. Du könntest ab und zu auch selber mal an was denken. Übrigens, Joseph hat früher im Verein gespielt.
Joseph Ach, das ist so lange her.
Robert Kurz und gut, über diesen Kollegen haben wir die Karten bekommen. In den Osterferien, während wir auf Mauritius waren, hat er seine Tante besucht und als wir wieder zurück waren, hat er mir den Umschlag in die Hand gedrückt. Das war’s.
Evelyn Und wieso hast du nicht nachgeschaut? Robert, das wäre das allererste, was ich gemacht hätte.
Robert Wollte ich ja auch. Ich weiß noch, nachdem Sylvia die Karten nicht sehen wollte, hatte ich den Umschlag ziemlich lange in der Hand. Es war schon ein tolles Gefühl. - Wisst ihr, da hält man was in der Hand, worauf man verdammt lange gewartet hat. 6 Jahre haben wir’s versucht. Jedes Jahr das gleiche Formular und jedes Jahr die Absage. Nein, habe ich mir gesagt, Sylvia wollte die Karten nicht sehen, und ich lasse den Umschlag zu. Einfach zu. So wie man die Weihnachtsgeschenk ja auch nicht schon am 23. auspackt.
Evelyn Bayreuth ist nicht Weihnachten, lieber Robert, und bei einem Geschenk weiß man vorher nicht, was man bekommt.
Joseph Robert, du hast wirklich nicht in den Umschlag gesehen?
Robert Nein.
Joseph Ich könnte dich küssen.
Evelyn Oh, das wäre ja mal was anderes.
Joseph Wenn du gestattest, werde ich stellvertretend ... Nein, ich küsse euch beide.Er steht auf, geht zu Robert und küsst ihn auf den Kopf, dann geht er zu Sylvia und küsst sie auf den Mund.
Sylvia Joseph, wie kommen wir zu dieser Ehre?
Joseph Ich erkläre es euch gleich.Er holt die Schnapsflasche. Wer trinkt mit?Sylvia hält ihr Schnapsglas hoch und Joseph schenkt Sylvia und sich ein.
Evelyn Bist du jetzt völlig übergeschnappt?
Joseph Sonst noch jemand ohne Fahrschein? Evelyn und Robert lehnen ab. Joseph stößt mit Sylvia an, beide trinken.
Robert Gehe ich recht in der Annahme, dass du mich für verrückt erklären möchtest?
Evelyn Wenn hier einer verrückt ist, dann nicht du. Obwohl ich das mit den Karten wirklich nicht verstehe.
Joseph Im Gegenteil, lieber Robert, ganz im Gegenteil. Frauen verstehen das nicht, aber ich.
Sylvia leise: Sag so etwas nicht noch mal.
Joseph Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. - Ich bin begeistert, ja, völlig begeistert. Ich kann es einfach nicht anders sagen. So ist es.
Sylvia Du bist glücklich, Joseph.
Joseph Oh ja.Er geht während der folgenden Worte hinter dem Sofa auf und ab. Wisst ihr, mein Beruf ist geprägt von Sachlichkeit und Verantwortung. Da ist kein Platz für Emotionen. Den ganzen Tag über ist mein Verstand gefordert. Und nicht nur tagsüber. Als Notar ist man gewissermaßen eine Amtsperson. Da ist man immer im Dienst. Und hier in diesem Dorf gibt es wenige interessante Menschen. Keinen, mit dem man sich angeregt unterhalten kann. Ich habe heute schon darüber mit meiner Mutter gesprochen. Es gibt für mich nur wenige Plätze, an denen sich meine Seele ausruhen kann: Das ist die Musik und natürlich meine Frau.
Evelyn Nett, dass du ab und zu auch an mich denkst. Ihr habt sicher die Reihenfolge bemerkt.
Joseph Ach, du weißt genau, wie ich das meine. Nein, was wollte ich sagen, ja, richtig ... Ich muss einmal tief durchatmen. Lasst uns auf Sylvia und Robert trinken und den wunderbaren Zufall, der uns zusammengeführt hat.Er will Sylvia noch einen Schnaps einschenken.
Sylvia Jetzt wieder Sekt.Er schenkt Sylvia und sich Sekt ein und füllt die Gläser von Evelyn und Robert mit Wein nach.
Evelyn Was hat das jetzt mit den Karten zu tun?
Joseph Darauf komme ich gleich. Prost.Sie trinken. Robert, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich sage, dass mir, als wir euch beide trafen, bei Sylvia sofort klar war, hier ist eine verwandte Seele, eine Frau, ein Mensch, der auf der gleichen Wellenlänge liegt. Nicht dass ich das Geringste gegen dich gehabt hätte, Robert. Nein, bei Sylvia war es nur so, dass ich gleich eine besondere Nähe spürte. Ich hoffe, ihr versteht mich nicht falsch.
Evelyn mit sarkastischem Unterton: Voll und ganz verstanden.
Joseph Und nun spüre ich diese Verbundenheit auch mit dir.
Evelyn Hoppla, was wird das?
Joseph Lass doch bitte deine anzüglichen Bemerkungen. Die sind jetzt wirklich nicht angebracht.
Sylvia Jetzt bin ich aber sehr gespannt.
Robert Joseph, ich bin gerührt von dem, was du gesagt hast. Aber ich verstehe nicht, was hat das mit den Karten und dem Umschlag zu tun?
Evelyn Oh, mir geht ein Licht auf.Sie schlägt sich mit der Hand an die Stirn. Joseph, du hast den Umschlag auch nicht geöffnet!
Joseph Erraten, meine Liebe. Mir ging es genau wie Robert. Wir hatten die gleichen Gefühle, als wir den Umschlag in der Hand hielten. Ist das nicht wunderbar? Kein vernünftiger Mensch auf der Welt würde das tun - nur wir beide, Robert und ich.
Evelyn Seid ihr eigentlich völlig bescheuert? Wir fahren nach Bayreuth, haben für 4 Opernabende und 6 Übernachtungen gebucht und haben noch nicht einmal die Eintrittskarten kontrolliert? Das ist doch das wichtigste, was wir mitnehmen. Ich verstehe das wirklich nicht. Als wir nach Mauritius gefahren sind, hat er mich bestimmt ein duzend mal nach meinem Pass gefragt. Joseph ist sonst immer sehr penibel und korrekt.
Sylvia Woher weißt du dann, in welchem Block ihr sitzt?
Robert Das steht auf der Rechnung. Man muss sie vorher bezahlen. Mein Kollege hat sie mir gezeigt. Leider habe ich mir nicht gemerkt, wo wir sitzen. Es waren auf jeden Fall die teuersten Eintrittskarten meines Lebens.
Joseph Ich weiß gar nicht mehr, was sie gekosten haben.
Evelyn So, ich möchte jetzt sofort die Karten sehen.Sie steht auf. Wenn ihr unfähig dazu seid, einen Umschlag zu öffnen, dann mache ich das. In welchem Buch hast du sie versteckt? Wieder im ‚Faust‘ oder in ‚Joseph und seine Brüder‘?
Joseph Nein, diesmal nicht. Aber du kannst ganz beruhigt sein. Ich weiß genau, wo sie sind und habe es mir nicht nehmen lassen, jeden Tag einmal nachzuschauen.
Evelyn Und wahrscheinlich hast du den Umschlag jedes Mal wie ein Baby gestreichelt.
Sylvia Ach Evelyn, komm, setzt dich wieder und lass diese doofen Eintrittskarten, wo sie sind. Wir vertrauen unseren Männern.
Evelyn Und Roberts Kollegen nicht zu vergessen!
Robert Dem vertraut Sylvia sowieso. Ich weiß nicht, ob dir damit geholfen ist, aber wenn du willst, hole ich gerne unsere. Dann mache ich den Umschlag eben auf. Ist überhaupt kein Problem. Und ich kann endlich unsere Mitbringsel holen.Er will aufstehen.
Joseph Halt, Robert, bleib bitte hier.
Evelyn Was bist du für ein Riesenkindskopf, Joseph.
Sylvia Evelyn, du weißt doch: Männer müssen sich manchmal wie kleine Kinder benehmen. Sonst sind sie nicht glücklich.
Evelyn Mir reicht’s. Wenn ihr mich jetzt entschuldigt. Ich bin sehr müde und morgen muss ich noch für eine Stunde in die Praxis.
Sylvia Evelyn, du kannst jetzt nicht so gehen. Joseph, komm, sag doch was.
Joseph zu Evelyn: Du hattest einen sehr anstrengenden Tag. Schade, ich dachte, wir könnten schon mal von dem Kuchen, den du heute Nachtmittag gezaubert hast, probieren. Er duftete so köstlich.
Evelyn Friss ihn von mir aus auf. Er steht in der Küche. Du kannst ihn nicht übersehen. Ich gehe ins Bett.Zu Sylvia und Robert: Seid mir nicht böse.Evelyn geht rasch zur Wohnzimmertüre, dreht sich an der Türe kurz um. Falls ihr in der Nacht Hunger oder Durst bekommt, bedient euch bitte am Kühlschrank. In der Küche steht auch ein Kasten Wasser. Frühstück gibt’s ab 8. Ich bin zwischen halb 9 und halb 10 in der Praxis. Gute Nacht.Nach rechts ab.
II.6 Sylvia, Joseph und Robert
Betretenes Schweigen.
Sylvia Joseph, das war nicht nett von dir. Komm, geh zu ihr und bring das in Ordnung.
Joseph Das ist zwecklos. So ist sie nun mal. Ich kenne sie 20 Jahre länger als du. - Ich wollte doch nur ihren Kuchen loben.
Robert Ist aber etwas anders angekommen. Ich denke, wir sollten uns jetzt auch zurückziehen.
Joseph Sie wird sich schon wieder einkriegen. Komm, bleib doch noch.
Sylvia Ich bin noch nicht müde.
Robert Aber ich. Wann hattest du gedacht, dass wir morgen losfahren?
Joseph So gegen Mittag sollten wir starten. Der Vorabend beginnt um 6. Für den Weg nach Bayreuth brauchen wir maximal drei Stunden.
Robert zu Sylvia: Du kannst ja noch bleiben. Ich wünsche eine gute Nacht.
Sylvia Ich bleibe höchstens noch auf ein Glas.
Robert verabschiedet sich von Joseph per Handschlag und von Sylvia mit Küsschen und geht dann nach rechts ab.
II.7 Joseph und Sylvia
Joseph Noch etwas Sekt? Ich kann gerne noch ein Fläschchen öffnen.
Sylvia Aber nur ein Glas. Ja?
Joseph steht auf. Wir können ja noch die „Winterstürme“ hören.Er geht zur Küche. Das sind circa 15 Minuten bis zum Schluss. Kannst du die Anlage anstellen? Die Aufnahme liegt schon drin.Er verschwindet in der Küche.
Sylvia steht auf und geht zum Regal. Sie bleibt vor dem Regal stehen und betrachtet die Bücher. Da sind so viele Knöpfe. Mach du das lieber.
Joseph kommt mit einer Sektflasche zurück. Ja, gleich. Erst möchte ich mit dir anstoßen.
Sylvia geht zum rechten Sessel und setzt sich, Joseph macht die Flasche - ohne Knall! - auf und setzt sich dann rechts auf das Sofa. Er schenkt ein.
Sylvia „Des seimigen Metes süßen Trank. Schmeckst du ihn mir zu?“Sie stoßen an und trinken.
Joseph Einen Seligen labtest du, Sylvia, nicht einen Unseligen.
Sylvia Joseph, bist du glücklich?
Joseph Jetzt ja. Ein Unseliger war ich. - Heute ging ein bisschen viel daneben. Die Hotelbuchung, Luigi, die Video-Kassette für Mutter ...
Sylvia Evelyn ist sauer ...
Joseph Aber jetzt sitze ich neben dir und freue mich auf Bayreuth.
Sylvia Was war denn auf der Kassette, die du deiner Mutter mitgegeben hast?
Joseph Bitte erinnere mich nicht daran. - Wagner. Mutter hasst Wagner. Jetzt glaubt sie bestimmt, ich wollte sie verarschen. Weißt du, im Zweiten wurde der komplette Ring gebracht, eine Aufzeichnung aus Bayreuth, sehr spät und aufzugsweise. So ein Blödsinn: der Ring häppchenweise nach Mitternacht.
Sylvia Oh, hab‘ ich gar nichts von mitbekommen.
Joseph Da siehst du’s mal. Eine unmögliche Sendezeit. Ich musste es aufnehmen. Waltraud muss den ersten Aufzug der Götterdämmerung erwischt haben.
Sylvia Ah, wie schön, der erste Aufzug. Ich meine, deiner Mutter wird das gar nicht gefallen.
Joseph Sylvia, ich stelle mir vor, mit dir zusammen die Götterdämmerung zu erleben. Wir können ja mal die Plätze tauschen. Für eine Aufführung oder einen Aufzug.
Sylvia Daran habe ich auch schon gedacht.
Joseph schenkt noch einmal beide Gläser voll und trinkt. Wir beide im ersten Aufzug der Götterdämmerung - mit den beiden Vorspielen.
Sylvia Das lieber nicht.
Joseph Warum?
Sylvia Kann ich dir nicht erklären.
Joseph Schade, dann die Walküre.
Sylvia schwärmerisch: Siegmund und Sieglinde. „Winterstürme wichen dem Wonnemond“.
Joseph will aufstehen, hat dabei einige Schwierigkeiten. Ach, das wollten wir doch hören.
Sylvia Bleib sitzen. Hast du einen Schwips?
Joseph Wo denkst du hin?
Sylvia Meinst du, es wäre Evelyn recht, wenn wir die Plätze tauschen?
Joseph Da bin ich mir ziemlich sicher. Weißt du, manchmal denke ich, sie kommt bloß wegen mir mit.Er trinkt.
Sylvia Wirklich, ich dachte, ihr seid beide eingefleischte Wagnerianer.
Joseph Auf jeden Fall, habe ich mir gesagt, nach unserer Bayreuth-Reise werde ich sie nie wieder drängen, Wagner mit mir zu hören. - Jetzt hören wir die Winterreise, eh, die Winterstürme.Er will wieder aufstehen.
Sylvia Nein, bleib. Du hast wirklich einen Schwips, einen ganz kleinen, Joseph.
Joseph Glaubst du, ich sitze neben einer schönen Frau und trinke mir einen an? Das habe ich nur ein einziges Mal in meinem ganzen Leben gemacht. Als ich zum ersten Mal mit Sylvia schlafen wollte, eh, entschuldige, mit Evelyn natürlich.
Sylvia Joseph, du bist ein bisschen durcheinander.
Joseph Es muss dein Parfüm sein, was mich betört. Oder deine Augen.Er beugt sich über sie, zärtlich Brünnhilde!
Sylvia „Der Augen leuchtendes Paar“
Joseph „Das oft ich lächelnd gekost.“Er küsst ihre Augen.
Sylvia „Wenn Kampfeslust ein Kuss dir lohnte.“Er küsst sie. Wotan!
Joseph „Wenn kindisch lallend ...“Er küsst sie erneut.
Sylvia leicht protestierend Wotans Abschied geht etwas anders. Denk dran, Brünnhilde ist seine Tochter. Etwas mehr väterlich bitte. Inzest haben wir im ersten Aufzug.
Joseph Der erste Aufzug, natürlich. Sieglinde. Sieglinde!Er schenkt auf der Sessellehne hängend die Gläser erneut voll, stößt mit Sylvia an, und trinkt. Lass mich dein Siegmund sein. „Den Namen nehm’ ich von dir!“
Sylvia Siegmund, der Wälsung. Mein kleiner, trunkener Siegmund.
Joseph fängt an, Sylvia abzuknutschen und zu begrabschen „Braut und Schwester“.
Sylvia Heiligste Minne!
Joseph „So blühe denn Wälsungen- ....“Er sinkt betrunken zu Boden. „ ... blut.“
Vorhang.
PAUSE.